Gerhard Schulz: Wer die Wahl hat…

Kandidatur zum Oberbürgermeister

Am 11. Mai 2003 sind Oberbürgermeisterwahlen in Wiesbaden. Neben Amtsinhaber Hildebrand Diehl (CDU) und Herausforderer Rolf Praml (SPD) bewirbt sich auch Gerhard Schulz um das höchste Verwaltungsamt der hessischen Landeshauptstadt. Der 41jährige gelernte Zimmermann ist langjähriger Vorsitzender des KuK Schlachthof Wiesbaden, dem flächenmäßig größten Soziokulturzentrum in Hessen, und Vorstandsmitglied der LAKS Hessen.

Gerhard, du gehst als parteiloser Kandidat in die Wiesbadener Oberbürgermeisterwahlen. Wie kam es dazu? Was war der Auslöser?

Die Kandidatur des "Projekt Schulz" ist die logische Konsequenz unsererseits aus 11 Jahren Initiative KuK, aus 9 Jahren Kulturarbeit im Schlachthof, aus 5 Jahren Bemühungen um unser Außengelände und schließlich aus 1,5 Jahren Entwicklung, Planung und Einsatz für den Kulturpark zusammen mit der IG Schlachthof für die Jugend. Das schließt auch die Drecksarbeit ein, die dazugehört, um aus einem alten Schlachthof ohne Fenster mit undichtem Dach ein Kulturzentrum zu bauen, sowie der Plackerei in Behörden, Ämtern und Ausschüssen, dem Bitten um Zuschüsse, Genehmigungen, Anerkennung und Akzeptanz. Der unmittelbare Auslöser war eine Sitzung des Ausschusses für Stadtplanung und Bau, in der es erneut keine Fortschritte zum Kulturpark gab, Ausschussmitglieder erneut nicht nach einer besseren Lösung, sondern wie immer nach Fraktionszugehörigkeit abstimmten; zwei Stunden Diskussion völlig umsonst. Nach dieser Sitzung war unsere Enttäuschung groß, die Geduld am Ende, und noch auf der Rathaustreppe sagte Dietmar:" Naja, sind ja auch bald Oberbürgermeisterwahlen..." und ich antwortete spontan:" Ja, oder so...". Damit war die Idee geboren. Der Entschluss für eine Kandidatur im Schlachthofplenum fiel eine Woche vor Abgabeschluss der Unterschriftenlisten am 06. März. In nur einer Woche hatten wir statt 162 locker 300 Unterschriften zusammen, ohne bei unseren Veranstaltungen verschärft zu sammeln.

Du kandidierst zwar als Einzelperson, der Slogan lautet aber "Projekt Schulz. Gerhard Schulz.". Gibt es also mehr als die Einzelperson Gerhard Schulz, die hinter dem "Projekt Schulz" steht?

Ja, auf jeden Fall! Wie ich schon angedeutet habe, wurde die Kandidatur letztlich im Schlachthof-Plenum entschieden; selbstverständlich ist der Schlachthof die Basis allen Handelns. Da sich der Schlachthof als soziokulturelles Zentrum versteht, wir strukturell kollektiv organisiert sind, haben wir ein natürliches Interesse an politischen Prozessen. Außerdem sind wir Betroffene bzw. wir verstehen und als Beteiligte an der Entwicklung in unserer Stadt und über die LAKS auch hessenweit, also als lebendiger Teil dieser Stadt. Wir möchten mit dieser Kandidatur viele Wiesbadener/innen unter einen Hut bringen: unsere kreativen Leute; andere, die immer zu kurz kommen oder kommen sollen; Menschen mit guten Ideen, die nicht gehört werden; Unzufriedene, für die eine Wahl zwischen Diehl und Praml zur Wahl der Qual werden würde; und auch für jene, die erst gar nicht wählen würden, uns aber interessant finden. Um dies zu dokumentieren, nenn wir es das "Projekt Schulz", auch wenn die Wahl eines Oberbürgermeisters eine Personenwahl ist.

Wie sind die Reaktionen aus eurem bzw. dem parteipolitischen Umfeld?

Aus unserem Umfeld ist die Reaktion großartig und ermunternd. Zuspruch kriegen wir auch von vielen älteren Menschen, die es gut finden, dass sich "mal wieder jemand an den Menschen orientieren will". Aus dem parteipolitischen Umfeld sind die Reaktionen selbstredend anders. JuSos und SPD sind offensichtlich stinksauer, die CDU ist zurückhaltend. Hier nährt sich das Gerücht, das Herr Diehl jedes Podium, auf dem ich sitzen werde, meiden will; ähnlich sieht es bei Herrn Praml aus. Wie wir sehen können, ist Teilnahme an Politik und ein Abbau von Politikverdrossenheit nur dann erwünscht, wenn es nicht zu konkret wird. Wir sollen die einen oder den anderen auf die "Machtposition" wählen, dazu sind wir gut. Alles andere regeln dann unsere Fachleute in der politischen Arena, wo man getrost auf unseren Rat verzichten kann. Politik wird zur Immobilie, die von "Parteien" gemietet ist, dann ist das Boot aber auch voll.

Kritiker werfen euch eine "Spaßkandidatur" vor, die nicht nur nichts mit seriöser Politik zu tun habe, sondern sogar negativ auf das Verfahren zwischen den Kandidaten der beiden großen Parteien auswirken könnte. Wie steht ihr zu dieser Kritik?

Demokratie ist wie Beton, es kommt drauf an, was man draus macht. Über eine Spaßkandidatur entscheiden nicht CDU und SPD, sondern die Wähler/innen. Wir werden durch unsere Kandidatur eine absolute Mehrheit für einen der Bewerber verhindern. Wenn wir nicht ernst zu nehmen wären, wären die anderen nicht so sauer.

Eure Zielvorgabe lautet "Zehn Prozent plus x". Aber ist es nur das Ergebnis, das zählt? Oder ist auch der Prozess für euch eine wichtige Handlungsebene?

Wir stellen Wiesbaden mit der Kandidatur vor Fragen: Sind wir zufrieden mit der Politik und wie sie gemacht wird? Sind wir bereit, selbst etwas zur Veränderung beizutragen? Wollen wir selbst einmal ein Zeichen setzen? Wollen wir andere Schwerpunkte setzen? Glauben wir an das nächste Konzept, das unsere Probleme endlich lösen soll? Haben wir nichts Besseres verdient? Diese Liste ließe sich beliebig verlängern. Das Ergebnis der Wahl wird viele dieser Fragen beantworten, und das finde ich erstrebenswert. Wir werden die Prozente nach diesem Gesichtspunkt bewerten. Aber natürlich ist das Bündel, das wir aus Wiesbadener Energie und Kraft schnüren wollen, ein wesentlicher Bestandteil der Kampagne. Werden wir wirklich zweistellig, wird dieses Bündel, diese neue "Wiesbadener Stimme", auch nach der Wahl und egal, wie sie ausgeht, etwas zu sagen haben!

Gesetzt den Fall, du bekämst das Votum der BürgerInnen als Oberbürgermeister. Wie und mit welchen Themen würdest du an die Arbeit gehen?

Den Schwerpunkt sehen wir im Selbstverständnis und der Stimmung in Wiesbaden. Wir haben keinen Goldesel und können nicht alles bezahlen. Wir müssen wissen, was wir in Wiesbaden wollen: Großprojekte von Investoren, von außen geplante Einkaufspaläste, die nicht zu uns passen und für die Verbraucher zu teuer sein werden? Prestige? Durch was? Durch eine Werbekampagne für unsere Stadt für bis zu 2 Mio € jährlich bei gleichzetiger Zusammenstreichung des für eine Landeshauptstadt zu kleinen Kulturhaushaltes? Muss der Belag des Schloßplatzes erneuert werden, während soziale Einrichtungen geschlossen werden? Vorher würde ich auf jeden Fall aber erst noch mal Urlaub machen...

Wie wird euer Wahlkampf aussehen?

Klein, aber fein. Wir haben ja nicht gerade viel Geld und können noch nicht mal auf 500 Plakatständer zurückgreifen wie unsere Kontrahenten. Marke Eigenbau wird bei uns im Vordergrund stehen. Das sind wir jedoch gewohnt, und darin sind wir gut. Wir machen auf jeden Fall einige Veranstaltungen im Schlachthof. Zusätzlich werden wir mit einem Wahlauto durch Wohnviertel und Stadt fahren, machen Buttons und Bäpper, ein paar nette Aktionen tüfteln wir gerade aus, wir werden uns zu vielem zu Wort melden, und natürlich setzen wir auch auf Mundpropaganda. Michael Naumann als erster Staatsbeauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien hatte vor einigen Jahren eingefordert, dass mehr Kulturschaffende direkt in der Politik vertreten sein sollten, anstelle immer nur die Vertretung durch Politiker einzufordern.

Ist der Spagat zwischen praktischen Kulturschaffen und parteipolitischem Engagement ein gangbarer Weg? Oder bedarf es einer großen Portion Schizophrenie oder gar einer multiplen Persönlichkeit, um diesen Weg glaubhaft beschreiten zu können?

Nein, du musst nicht verrückt sein. Am Anfang reicht eine Mischung aus etwas Verzweiflung, einiger Energie, mehr gutem Gefühl und einer gesunden Prise Glaubens an die gute Idee, an sich selbst und an die Mitmenschen. Dann nimmt es seinen Lauf und macht seine Entwicklung. Wir werden ja auch abgefragt, angesprochen und aufgemuntert. Wir sind nur aufgefordert, unserer Linie treu zu bleiben, das ist schließlich unsere Stärke und die Würze in diesem Wahlkampf oder auch in der (lokalen) Politik überhaupt.

Gibt es noch etwas, was du an dieser Stelle loswerden oder ansprechen möchtest?

Es wird einfach Zeit, dass wir als Gesellschaft den nächsten Schritt in das neue Jahrtausend gehen. Das setzt voraus, dass wir in vielerlei Hinsicht umdenken. Neue Kräfte in gesellschaftliche Verantwortungsbereiche aufzunehmen, einzubinden und zu fördern ist ein Muss. Neue Probleme brauchen neue Lösungen, kein altes Denken. Generationsübergreifender Respekt und Akzeptanz bringen eine neue politische Kultur in Rathäuser und dort laufende Prozesse. Wir, das KuK, kommen aus der Soziokultur und definieren Kultur nicht "nur" aus Theater, Musik oder Malen, sondern für uns und viele andere überspannt Kultur das ganze Zusammenleben in einer Gesellschaft. Radwege, Sicherheitsverordnungen, Stadtentwicklung, Integration, auch Krieg und Frieden sind eine Frage der Kultur. Diesen Gedanken wollen wir in Wiesbaden freisetzen. Wir wollen andere Fragen stellen, um auf andere Antworten zu kommen, andere Prioritäten setzen. Aus dem Leben kommen und schöpfen, mal instinktiv handeln, Herz und Bauch haben. Wir können aus Wenig viel Mehr machen, das haben wir schließlich in neun Jahren Schlachthof gelernt. Und Wiesbaden weiß das!

Gerhard, vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg für die kommenden Wochen und Monate.

Das Interview führte: Bernd Hesse © 2003 LAKS Hessen e.V, www.laks.de