"...aber ohne Kultur ist alles nichts"

MdB Hans-Joachim Otto

Hans-Joachim Otto, Mitglied des Hessischen Landtags 1983 bis 1987, Stadtverordneter in Frankfurt 1997 bis 1999, Mitglied des Bundestages 1990 bis 1994 und seit 1998; medien- und kulturpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, seit November 2005 Vorsitzender des Ausschusses für Kultur und Medien. Internet: www.hans-joachim-otto.de

Herr Otto, 2003 berief der Bundestag fraktionsübergreifend eine Enquete-Kommission "Kultur in Deutschland" ins Leben, die sich mit einer Grundlagenerhebung des kulturellen Lebens in Deutschland befassen sollte. Sie sind Mitglied dieser Kommission, die auch von der neuen Regierungskoalition wieder eingesetzt wurde. Warum diese Enquete-Kommission? Haben die Menschen, hat die Politik keine wichtigeren Probleme als "Sahnehäubchen" zu lösen?

Am besten lässt sich Ihre Frage mit einem bekannten Spruch antworten: "Kultur ist nicht alles, aber ohne Kultur ist alles nichts". Natürlich gibt es gravierende Probleme, die die Politik zu lösen hat. Wir müssen aber aufpassen, dass hinter den gewaltigen Folgen, die vor allem die Massenarbeitslosigkeit mit sich bringt, nicht alles hinten runter fällt. Für viele Leute ist zudem die verunglückte Rechtschreibreform oder die Frage, wie es gelingen kann, unsere überaus reiche Kulturlandschaft in Zukunft zu erhalten, von weit größerer Bedeutung als viele der Themen, die in der Tagesschau an erster Stelle stehen. Und ich finde es ein tolles Signal, dass der Deutsche Bundestag sagt, dass das Thema Kultur ein so wichtiges ist, dass er eine Enquete-Kommission dafür einsetzt.

Was waren die bisherigen Tätigkeiten der Enquete-Kommission, und welches werden die Schwerpunkte der kommenden Jahre sein?

Die Arbeit der Kultur-Enquete der 16. Wahlperiode wird sich thematisch wenig von der vorherigen Enquete-Kommission, die ihre Arbeit aufgrund der vorgezogenen Neuwahlen nicht vollenden konnte, unterscheiden. Bisher haben wir uns vor allem mit der Bestandsaufnahme beschäftigt, d.h. wir haben uns mittels Gutachten, Anhörungen und Auswertung der Literatur über die Probleme und Chancen aller Bereiche der Kultur informiert. Dies galt sowohl für die öffentliche und private Finanzierung der Kultur, als auch für die wirtschaftliche und soziale Lage der Künstlerinnen und Künstler, den Kulturstandort Deutschland und die Kulturelle Bildung, um nur einige wichtige Beispiele zu nennen. Jetzt kommt es vor allem darauf an, die gewonnenen Erkenntnisse zu verarbeiten, zu diskutieren und Handlungsempfehlungen zu geben.

Sie selber sind seit Ende 2005 Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Kultur und Medien. Welchen Stellenwert genießen Kunst und Kultur in der politischen Aufmerksamkeit und Förderung? Zum Beispiel auch im Vergleich zu Wirtschaft und Technologie, in diesem Ausschuss sind Sie ja ebenfalls engagiert. Ist das aus ihrer Sicht angemessen und ausreichend?

Es könnte schlechter um die politische Aufmerksamkeit von Kunst und Kultur stehen. Der Ausschuss für Kultur und Medien ist prominent besetzt und der Bundestagspräsident ist ein ausgewiesener Kulturpolitiker. Zudem hatte ich den Eindruck, dass Kultur im Bundestagswahlkampf eine - relativ - große Rolle gespielt hat. Dennoch ist es für mich als Vorsitzenden des Kulturausschusses ein vordringliches Anliegen, die Wahrnehmung und den Stellenwert des Ausschusses für Kultur und Medien sowohl innerhalb des Bundestages als auch in der Gesellschaft zu erhöhen. Es ist die gemeinsame Aufgabe der Kulturpolitiker, dafür zu sorgen, dass die Kultur und die Kulturpolitik nicht nur als das Sahnehäubchen der Politik angesehen wird, sondern sich alle darüber im Klaren sind, dass die Kultur die Grundlage unserer Gesellschaft bildet.

Kulturpolitik ging zuletzt meist von den Kämmerern und Finanzpolitikern aus. Kulturpolitik erscheint - ganz im Gegensatz zu der sie betreffenden Realität und Praxis in Kunst und Kultur - unsinnlich und unemotional, meist reduziert auf finanztechnische Mittelflüsse oder Kürzungsdiskussionen. Müsste Kulturpolitik nicht viel stärker weg vom Katzentisch parteipolitischer Prioritätensetzung hin zu einer Querschnittsaufgabe gestaltet werden, um elementare und unverzichtbare Fragen unseres Zusammenlebens und Zusammenhaltes, kurz, zur Zukunft unserer Gesellschaft, gemeinsam zu entwickeln?

Man darf Kulturpolitik nicht mit der Kultur selbst verwechseln. Wir Kulturpolitiker haben zunächst einmal die Aufgabe, die Rahmenbedingungen für Kunst und Kultur optimal zu gestalten. Wir sind natürlich auch dafür verantwortlich, dass die Kultur in ausreichendem Maße vom Staat gefördert wird. Darüber hinaus haben wir die Möglichkeit, kulturpolitische Akzente zu setzen und Weichenstellungen vorzunehmen. Ein wichtiges Thema, was ich in diesem Zusammenhang immer nenne, ist die Kulturelle Bildung. Wenn wir uns diesem Thema nicht in viel stärkerem Maße zuwenden, brauchen wir uns in 20 oder 30 Jahren keine Gedanken mehr über die Finanzierung von Opernhäusern machen, da ohnehin niemand diese Kunstform mehr verstehen wird. Betrachtet man die Zusammensetzung der Mitglieder der Enquete-Kommission wie des Bundestagsausschusses, scheinen dort vornehmlich Großstädter versammelt zu sein. Gerät da nicht die vielfältige und unverzichtbare kulturelle Vielfalt abseits der Ballungsräume, die teils unter völlig anderen Bedingungen abläuft, aus dem Blickfeld? Natürlich gibt es viele Großstädter unter den Mitgliedern der Enquete-Kommission, vor allem bei den Sachverständigen. Von den Abgeordneten kommen viele auch aus ländlichen Regionen, z.B. die Kommissions-Vorsitzende Gitta Connemann aus Ostfriesland. Bei der Arbeit der Kultur-Enquete haben wir die strukturellen Unterschiede zwischen Ballungsräumen und den ländlichen Gegenden immer berücksichtigt. Wir haben mit der Enquete-Kommission auch zwei Deutschlandreisen unternommen, die uns überwiegend in die ländlichen Regionen und eher kleinere Kultureinrichtungen geführt haben. Darüber hinaus haben wir uns auch - vor allem am Beispiel des Sächsischen Kulturraumgesetzes - mit der generellen Frage beschäftigt, wie man einen Ausgleich der Kulturfinanzierung zwischen Städten und Landkreisen am besten organisieren kann.

Sie selber gehören der FDP an, und ihre Partei steht eher für Deregulierung oder Eigeninitiative. Warum kommt ausgerechnet von Ihrer Fraktion der Vorstoß, Kultur in das Grundgesetz aufzunehmen?

Ich sehe darin keinen Widerspruch, im Gegenteil: Nur wenn der Staat seiner Verpflichtung nachkommt, Kultur in einem bestimmten Umfang zu finanzieren, wird es Menschen geben, die sich darüber hinaus finanziell engagieren. Niemand spendet oder stiftet, um die allgemeinen Haushalte zu entlasten. Wenn aber klar ist, dass das Geld, das eine Privatperson oder ein Unternehmen spendet, einer Kulturinstitution für zusätzliche Projekte zugute kommt und nicht im nächsten Haushalt eingespart wird, dann steigt die Bereitschaft sich zu engagieren. Ohne dieses zusätzliche Engagement der Zivilgesellschaft werden wir die unschätzbare Fülle der Kultur in Deutschland dauerhaft nicht bewahren können. Daher ist es wichtig, dass der Staat sich zu seiner grundsätzlichen Förderverpflichtung klar und deutlich bekennt. Wir sind uns dabei darüber im Klaren, dass die Verankerung der Kultur als Staatsziel im Grundgesetz nicht bedeutet, dass auf einmal mehr Geld für die Kultur zur Verfügung steht. Wir halten aber die Aussage für ein wichtiges Signal des Staates an alle, die sich in der und für die Kultur engagieren. Und ich bin überzeugt davon, dass das Staatsziel Kultur gerade auf der kommunalen Ebene ein gewichtiges Argument ist, um die Kultur zumindest vor weiteren Einsparungen zu verteidigen.

Inwiefern spielt die von der Regierungskoalition geplante Reform des Gemeinnützigkeitsrechts, das derzeit ja ebenso komplex wie unübersichtlich ist, in diese Frage mit ein?

Die Reform des Gemeinnützigkeitsrechts ist nicht erst ein Projekt der aktuellen Regierungskoalition. Sie ist seit langem fällig, aber auch eine Mammutaufgabe. In der Enquete-Kommission "Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements" hat sich der Bundestag in der 14. Wahlperiode bereits eingehend mit diesem Thema beschäftigt und Handlungsempfehlungen erarbeitet. Für die Liberalen hat die Reform des Gemeinnützigkeitsrechts eine zentrale Bedeutung, da von den Rahmenbedingungen bürgerschaftlichen Engagements die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft abhängt. Weniger Staat in vielen Bereichen heißt für uns nicht nur mehr Markt, sondern vor allem auch mehr Zivilgesellschaft. Nach unseren Vorstellungen zur Reform des Gemeinnützigkeitsrechts soll der Staat nicht mehr als der vermeintlich großzügige Gönner von Steuererleichterungen für gemeinnützige Aktivitäten agieren. Uns geht es darum, dass die Zivilgesellschaft als gleichrangiger Akteur neben Staat und Markt ernst genommen und auch so behandelt wird. Durch eine umfassende Reform des Gemeinnützigkeitsrechts ließe sich ein großes Potential an sozialem Kapital freisetzen. Es ist wichtig, dass wir die überfällige Aufgabe der Reform des Gemeinnützigkeitsrechtes nicht in erster Linie als eine steuerpolitische Aufgabe verstehen, sondern als ein vor allem gesellschaftspolitisches und kulturelles Anliegen.

Auf einem Kongress in Berlin haben Sie jüngst gesagt: "Die Zivilgesellschaft muss sich artikulieren, die Politik braucht diese Unterstützung und Zuarbeit". Aber hört die Politik auch wirklich zu?

Die Politik ist ganz selbstverständlich auf die Unterstützung und die Zuarbeit der Zivilgesellschaft, der Öffentlichkeit und der in der Kultur handelnden Personen angewiesen. Aus diesem Grunde haben wir insbesondere in der Enquete-Kommission "Kultur in Deutschland" zahlreiche Anhörungen und Expertengespräche durchgeführt. Auch im Kulturausschuss gibt es diese Anhörungen, die nach Möglichkeit öffentlich stattfinden. Ganz wichtig sind in diesem Zusammenhang auch die - oftmals zu unrecht als überflüssig kritisierten - Reisen der Abgeordneten. Ich habe auf den Reisen mit dem Kulturausschuss und den Gesprächen mit vielen Akteuren im Kulturbereich, Leitern von zum Teil sehr kleinen Kultureinrichtungen und Künstlern sehr vieles gelernt, was ich innerhalb des Parlamentes nie kennengelernt hätte. Der direkte Austausch zwischen den Akteuren der Kultur - und damit meine ich ausdrücklich nicht nur die Generaldirektoren oder Intendanten von Kultureinrichtungen - und der Politik ist für die gesetzgeberische Tätigkeit unerlässlich.

Im Bundestagwahlkampf haben Sie eine veränderte Einstellung von Politik und Gesellschaft zu Kultur gefordert, mehr Engagement für und in der Kultur und einen breiteren Kulturbegriff. Manches klang überraschend "soziokulturell". Für unsere LeserInnen kurz auf den Punkt gebracht: Welche Rolle sollten Ihrer Meinung nach Kultur und Kulturakteure in der Gesellschaft spielen und was halten Sie von Soziokulturellen Zentren?

Es ist eine Illusion zu glauben, dass die Kultur in Deutschland nur aus der sogenannten Hochkultur besteht. Die Ergebnisse des 8. Kulturbarometers, die Ende letzten Jahres veröffentlicht wurden, machen deutlich, dass die Kultur im klassischen Sinne nur wenig Bedeutung hat. Rund zwei Drittel der Befragten gaben an, noch nie eine Oper, Operette, Theateraufführung, Veranstaltung mit bildender Kunst oder Literatur besucht zu haben. Und auch bei denjenigen, die in die Oper gehen gibt es dramatische Entwicklungen: die Zahl der unter 40jährigen, die wenigstens einmal pro Jahr die Oper besuchen, hat sich seit 1965 halbiert. Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter auf die Ergebnisse eingehen, sie zeigen aber, dass Kultur im Sinne von Hochkultur oder institutionalisierter Kultur für viele Menschen in Deutschland wenig Relevanz hat. Dennoch spielt Kultur in Deutschland eine große Rolle. Kulturelle Vielfalt ist für mich die Grundlage für die Kreativität einer Gesellschaft. Wir sind auf diese Vielfalt angewiesen, denn einförmige Gesellschaften sind weder intellektuell noch wirtschaftlich leistungsfähig.

Hinzu kommt sicherlich auch die große Bedeutung der interkulturellen Kulturarbeit. Kultur als Ausdrucksform der menschlichen Existenz schafft Selbstvertrauen und Identität auch dort, wo unterschiedliche Sprachen eine verbale Kommunikation erschweren. Die Soziokulturellen Zentren halte ich nicht nur in diesem Sinne für überaus wichtige Einrichtungen. Es wird Sie nicht wundern, dass ich mich in diesem Interview positiv über die Soziokulturellen Zentren äußere. Aber wenn Sie sich meine vorherigen Antworten ansehen, werden Sie feststellen, dass das eben skizzierte Leitbild einer liberalen Zivilgesellschaft dem entspricht, was in den Kulturläden, Bürgerhäusern, Stadtteilzentren stattfindet. Uns geht es doch darum, dass die Bürgerinnen und Bürger sich nicht als passive Untertanen sehen, die vom Staat alles erwarten und vorgesetzt bekommen, sondern selbst Verantwortung übernehmen. Selbstorganisation und Selbstverantwortung sind typisch liberale Begriffe - und was anderes geschieht denn in den Soziokulturellen Zentren?

Die staatlich finanzierte Hochkultur ist ohne Zweifel unerlässlich für die Identität unserer Gesellschaft. Mindestens ebenso wichtig ist, dass es mit den Soziokulturellen Zentren eine Plattform gibt, auf der Kultur in jeglicher Ausprägung stattfinden kann und jeder unmittelbaren Anteil daran haben kann.

Zum Abschluss: Diese Ausgabe des INFODIENST SOZIOKULTUR hat ja den Schwerpunkt "Fußball und Soziokultur". Wie ist Ihr Verhältnis zum Fußball? Gibt es einen Lieblingsclub, als - zugereister -"Frankfurter Bub" die Eintracht? Und was erhoffen Sie sich von der Deutschen Nationalmannschaft und der WM?

Natürlich schlägt mein Herz für die Eintracht. Und Deutschland kommt zumindest ins Finale.

Herr Otto, wir danken für das Gespräch.

Das Interview führte: Bernd Hesse © 2006 LAKS Hessen e.V, www.laks.de