Interkulturalität wird konkret erlebbar

Geschäftsführerin Dr. Sofia Ott und Sadullah Güleç, ZIBB Giessen

Im November 2006 hatte das Zentrum für interkulturelle Bildung und Begegnung (ZIBB) Grund zu feiern: Vor 10 Jahren wurde das ZIBB in der ehemaligen "Pendleton-Barrack" Kaserne eröffnet und ist seither mit seinen vielfältigen Aktivitäten aus dem Gießener Leben nicht mehr wegzudenken. Mit internationalem Erzählcafè, Literaturcafès, Frauencafè, Konzerten, Ausstellungen und zahlreichen Bildungsangeboten belebt das ZIBB nicht nur kulturell und sozial den neuen Stadtteil, sondern ist inzwischen zu einer Anlaufstelle für das interkulturelle Miteinander in Gießen geworden. Anlässlich des Jubiläums sprach Ayse Gülec (Kulturzentrum Schlachthof) mit der Geschäftsführerin Dr. Sofia Ott und Sadullah Güleç, einem der Gründer des ZIBB.

Herzlichen Glückwunsch! Das ZIBB ist vor genau 10 Jahren in einer zeitlichen Phase der so genannten "leeren öffentlichen Kassen" entstanden. Wie war das möglich?

Sadullah Güleç: Die Idee und die Entwicklung des ZIBB hat eine lange zeitliche Vorgeschichte, die schon in den 80er Jahren im Gießener Ausländerbeirat begann. Aus diesem Kreis wurde die Forderung nach einen internationalen Zentrum formuliert. Interne Gespräche und Diskurse darüber zeigten, dass die Vorstellungen über die Inhalte und Ziele eines internationalen Zentrums sehr unterschiedlich waren:

Die eine Vorstellung bestand darin, allen Migrantenvereinen und landsmannschaftlichen Interessenvertretungen ein Haus zur Verfügung zu stellen, damit alle einen Ort für ihre jeweiligen Vereinsarbeit und Angebote finden. Im Zuge dieser Diskussionen kristallisierte sich aber ein anderes Modell heraus: Das Zentrum sollte nicht dazu dienen, Kulturen zu konservieren, sondern als Bildungs- und Begegnungsstätte eine gemeinsame und interkulturelle Identitätsbildung anstoßen und das interkulturelle Miteinander ermöglichen.

Ayse Güleç: Gab es für diese Idee des interkulturellen Zentrums mehr Lobby und Unterstützung aus der Politik?

Sadullah Güleç: Ja, als ein offener und unverwechselbarer Ort für alle mit dem Ziel der interkulturellen Bildung und Begegnung wurde dies von der Politik aufgegriffen und mündete als Thema in die kommunale Agenda ein. Aber auch auf der stadtgesellschaftlichen Ebene wurde es zu einem wichtigen Thema: Viele Menschen in Gießen nahmen die Idee positiv auf, identifizierten sich damit, wurden dafür aktiv und unterstützten und unterstützen dieses Vorhaben. Es schön zu merken, dass die Idee des ZIBB viele Energien und Kräfte mobilisierte. Die Chance der Realisierung fiel dann mit dem Konversionsprojekt zusammen: Das Viertel, in dem einst amerikanische Soldaten untergebracht waren, ging in die kommunale Hand über. Dieses ehemalige Kasernengebiet sollte zu einem neuen gemischten Wohnquartier umgestaltet werden. Trotz der schwierigen Stadtrandlage dieses Stadtteils war es eine gute Chance, das ZIBB hier entstehen zu lassen und mit den Aktivitäten für eine soziale und kulturelle Belebung und Entfaltung des Stadtteils zu sorgen.

Ayse Güleç: Wie lassen sich die Aktivitäten des ZIBB beschreiben?

Sofia Ott: Im ZIBB finden pro Jahr 280 Veranstaltungstage statt. Viele der Bildungs- und Kulturangebote sind eigene Aktivitäten. Wir führen auch Veranstaltungen in Kooperation mit anderen Einrichtungen und Vereinen statt oder stellen Räume zur Verfügung. Das eigene Programm ist recht bunt und besteht aus Veranstaltungen wie Erzählcafe, Literaturcafe, Frauencafe, mit Kleinkunst, Kleinkonzerten, Bildungsangeboten und Kreativangeboten. Mit diesen Aktivitäten wirken wir nicht nur in den Stadtteil hinein.

Sadullah Güleç: Als kleines Zentrum ist das Programm dennoch sehr mutig, denn die Veranstaltungsformate sind sehr frei und liegen jenseits der etablierten Formate. Alle Veranstaltungen ermöglichen Kommunikation, beleben das Miteinander und unterstützen die Selbstbildung der Menschen. Mit dem internationalen Erzählcafe haben wir ein eigenes Format entwickelt.

Sofia Ott: Das internationale Erzählcafe brauchte anfangs viel persönliche Ansprache bei möglichen Erzählern und Erzählerinnen. Inzwischen hat es sich sehr verbreitet, und zu den Veranstaltungen kommt ein sehr breites Publikum aus der ganzen Stadt und aus dem Landkreis. Menschen unterschiedlicher kultureller und sozialer Zugehörigkeit berichten von ihrem Leben, geleitet durch die Fragen "Woher kommst du?", "Wie war es dort?", "Was hast du erlebt?" Zu den bisherigen Erzählern gehörten auch Persönlichkeiten aus der Kommunalpolitik oder aus der Stadtverwaltung, aber auch Menschen, deren Leben geprägt war von Krieg, Flucht, Vertreibung und Migration.

Werden diese Lebensgeschichten dann vor dem Publikum erzählt, hören alle sehr gespannt, aufmerksam und voller Konzentration zu. Bei der Entfaltung der individuellen Lebensgeschichte lernen wir viel von den Menschen, und plötzlich werden andere Aspekte wesentlicher und prägender als die nationale Zugehörigkeit. In den Lebensgeschichten der anderen ist es möglich, Verbindungen und Bezüge zu seinem eigenen Leben zu entdecken. Neulich war eine Frau unser erzählender Gast. Sie erzählte die spannende Familiengeschichte ihrer Großeltern und Eltern: Zum Abschluss der Veranstaltung servierte sie eine Suppe, ein altes Familienrezept. Die Erzählung und insbesondere die Nockeln-Suppe weckten in mir sofort Bilder, Erinnerungen und Assoziationen an meine eigene Vergangenheit hervor. Dafür bin ich sehr dankbar, denn über diese Suppe verband sich die über 200 Jahre alte Geschichte unserer beiden Familien.

Sadullah Güleç: Mit dem internationalen Erzählcafe bleiben die "Anderen" oder die so genannten "Ausländer" nicht nur abstrakte Zahlen in Statistiken, sondern sie werden zu konkreten Personen mit eigenen Biografien und Geschichten. Doch auch andere funkelnde Glanzstücke gibt es im ZIBB, z.B. das internationale Frauencafe. Dieses Angebot findet zwar nur einmal im Monat statt, aber es kommen manchmal bis zu 100 Frauen zum Frauencafé. Aus diesem Dialog mit den Frauen entwickeln wir wieder vertiefende und bedarfsgerechte Qualifizierungsangebote.

Ayse Güleç: Das ist sicherlich sehr eindrucksvoll, wenn Konzepte auf diese sehr persönliche Weise aufgehen und neue gesellschaftliche Verbindungen und Identitäten schaffen. Ist das der Gewinn für Gießen?

Sofia Ott: Auf jeden Fall, weil Interkulturalität konkret erlebbar wird. Jeder und jede kann sich einbringen und somit das Miteinander gestalten. Es liegt wohl genau an dieser Offenheit für Vielfalt, dass auch die Zielgruppen und die Nutzer des ZIBB sehr unterschiedlich sind: Ob aus bürgerlichen oder sozial benachteiligten Schichten, alt oder jung und unabhängig von der kulturellen Herkunft - im ZIBB begegnen sie sich und finden Formen, sich auszutauschen und eine neue Kultur des Miteinanders zu entwickeln. Das ist auf jeden Fall ein Gewinn für Gießen und für die Region.

Sadullah Güleç: Viele dieser Angebote machen inzwischen Schule. Denn das Interkulturelle und somit die gesellschaftliche Vielfalt ist die Substanz, die wir nutzen und mit viel Engagement stärken wollen. Insofern ist uns die LAKS als inhaltlicher Begleiter und geistige Familie auch sehr wichtig.

Das Interview führte: Ayse Güleç © 2006 LAKS Hessen e.V, www.laks.de