Geschichte leben: Die Pianistin Irène Schweizer

Die Grande Dame des europäischen Jazz

Irène Schweizer ist die Grande Dame des europäischen Jazz und zählt heute zu den international renommierten Größen des zeitgenössischen Jazz. Ihre unnachahmliche Spielweise ist geprägt durch frühe Begegnungen mit Abdullah Ibrahim, Makaya Ntshoko, den Blue Notes um Chris McGregor und mit Cecil Taylor. Konsequent hat sie sich als Feministin und gegen Apartheid engagiert und war so um die 80er in der Feminist Improvising Group und dann im Projekt Canaille aktiv. Auf der Bühne und in der Tagespolitik mischt sie sich ein, Initiativen und Gründungen gehören zu ihrem Alltag: Fabrikjazz in der Roten Fabrik, taktlos und Intakt sind auch ihr Werk. Unlängst hat sie zur Unterstützung der Aktion Frauen in den Nationalrat für die Alternative Liste kandidiert.

Irène wurde mit mehreren Kulturpreisen geehrt, u.a. 1986 mit dem "Werkjahr", einem Preis des Kantons Zürich, und 1991 folgte der Kunstpreis der Stadt Zürich: in 50 Jahren die dritte Frau und erstmals ein Mitglied der Jazzfamilie.

Liebe Irène, mir erscheint es so, als lebtest du schon immer in Zürich. Trifft das denn zu?

Nein, ich komme aus Schaffhausen und lebte erstmals 1961 in Zürich, verbrachte dann zwei Jahre in England und kehrte 1963 nach Zürich zurück.

Und wer oder was hat dich dazu gebracht, Klavier zu spielen?

Ich habe wegen des Jazz angefangen, Klavier zu spielen. Schon mit 13 und unter dem Eindruck von Miles Davis, Art Blakey & the Jazz Messengers und John Coltrane.

In diese Zeit fällt dann auch deine erste Begegnung mit südafrikanischen Exilmusikern.

Und das war eine Offenbarung für uns alle. Wir wußten ja gar nicht, daß Südafrikaner Jazz spielen, mit einem ganz eigenen Stil, wunderbar singbaren Melodien. Eine eigene Musik, die uns sehr hymnisch und zugleich sehr rhythmisch ergriff. Zunächst kam Dollar Brand (Abdullah Ibrahim) im Trio mit Makaya Ntshoko und Johnny Gertze nach Zürich. Sie spielten regelmäßig im Cafe Africana. Wir alle waren begeistert und gingen so oft wie möglich hin. Einige Zeit später kamen dann auch die Blue Notes nach Zürich und traten nun ebenfalls im Africana auf. Wir, die jungen Schweizer, waren in der Folge häufiger als Vorgruppe im Africana zu hören. Seit diesen Tagen kenne ich Makaya Ntshoko und seit der Ankunft der Blue Notes auch Louis Moholo.

Du hast schon häufiger erzählt, daß dies sehr prägende Erfahrungen für dich geworden sind. Und unüberhörbar ist, daß Dollar Brand dein Klavierspiel beflügelt hat.

Chris McGregor, Pianist und Gründer der Blue Notes, war mir ein guter Lehrer; auch später in London, als die Südafrikaner nach England gegangen waren. In Zürich hatte ich keine Szene, von der ich derart lernen konnte, also ging ich so oft wie möglich nach London und musizierte mit Dudu Pukwana und Chris McGregor, Harry Miller, Trevor Watts, John Stevens u.a.

Und so bist du folgerichtig in eine politische Bewegung geraten. Begabt, neugierig, ausdrucksstark und engagiert hast du die Anti-Apartheid-Bewegung begleitet.

Tatsächlich wurde schon ein Auftritt 1975 auf dem ersten Festival in Willisau ein Highlight, ich trat dort im Quartett mit John Tchicai, Makaya Ntshoko und Buschi Niebergall auf. Künstlerischer wie politischer Höhepunkt war das Internationale Züricher Jazzfestival 1986.

Auf diesem Festival entstand eine großartige LP von dir und Louis Moholo. Als Hörer wurden wir ergriffen und erschüttert vom großen Pathos und der Kraft der Musik.

...ja, und es waren die wichtigsten südafrikanischen Exilmusiker nach Zürich eingeladen worden: Johnny Dyani mit Jazz gegen Apartheid, Dudu Pukwana mit seiner Gruppe Zila, Louis Moholo im Duo mit mir. Es war die hohe Zeit der Anti-Apartheid-Bewegung. Im brodelnden Zürcher Volkshaus war die Spannung hoch und die Musik stark, impulsiv und energisch. Die Veranstalter der Bankenstadt Zürich jedoch wollten eine unpolitische Veranstaltung und ließen sogar Banken als Sponsoren auftreten...

...was aber weder mit euch Musikern noch mit dem Publikum zu machen war...

...mit unserem Auftritt entfalteten sich lautlos Transparente, sanken von den Höhen der Ränge herab: Anklagen gegen die Politik der Banken. Die Veranstalter hatten verhindern wollen, daß Sprecher von Anti-Apartheid-Bewegung und Amandla zu Wort kommen. Wir warteten jedoch auf der Bühne auf den Sprecher und begannen erst nach der Rede zu spielen.

Bis heute setzt sich deine langjährige Geschichte mit der Musik des Exils fort. Nach Südafrika bist du aber erst nach der Wende am Kap gereist?

Die Regisseurin Gitta Gsell hat 2003 einen Film über die Jazzerin Irène Schweizer gemacht und darin eine Südafrika-Tournee mit Louis Moholo und mir begleitet. In den Konzerten wurde die Heimkehr Moholos gefeiert.

Staunend erlebe ich dich, Irène, immer auf der Höhe der Zeit und in allen Projekten immer in Interaktion mit den kompetentesten ZeitgenossInnen.

Ja, ich weiß, wo gute Leute zu finden sind. Und es macht mich sehr zufrieden, eine Geschichte zu leben, wie mit Moholo, Makaya oder Hamid Drake.

Genau so dicht sind deine Frauenmusikprojekte und deine Aktivität in der Frauenbewegung verknüpft. Alles begann in England?

Ich traf Lindsay Cooper und Georgie Born bei einem Konzert der englischen Rockgruppe Henry Cow in Zürich. Lindsay erzählte von der 1977 zunächst britisch gegründeten Feminist Improvising Group und fragte, ob ich denn mitmachen würde. Wir spielten bald auf einem Frauenfestival in Eindhoven - Annemarie Roelofs war bereits dabei - und erhielten eine Einladung nach Kopenhagen, wo Marylin Mazur zu uns stieß. Die Resonanz war intensiv, Italien wurde eine wichtige Bühne, wo die KPI uns eingeladen hat, immer dann, wenn es um Frauenrechte und konkrete politische Anlässe ging. Weniger gut fielen die Kommentare der Musikerkollegen aus...

... da haben sich einige Hardcore-Progressive ausgesprochen kleinkariert positioniert...

...aber davon reden wir nicht mehr. George Lewis war der Einzige, der uns gut fand. Tatsächlich kamen wir als Künstlerinnen aus sehr verschiedenen Gefilden. Mit Maggie Nicols, die vom Jazz kommt, funktioniert das Verstehen bis heute einzigartig. Lindsay Cooper kommt mit Rock- und Neuer Musik aus einer ganz anderen Welt, aber gerade die Verschiedenheit unserer Qualitäten führt zu einer sehr theatralischen, lustbetonten und "diabolischen" Musik. Und wir waren in der Frauenbewegung aktiv, Lindsay in England, ich in Zürich.

Ist die Canaille eine Fortsetzung der Feminist Improvising Group?

Canaille ist ein Festival für Improvisierte Musik, das von Katharina Goth in Frankfurt am Main ins Leben gerufen wurde. In Zürich hat Fabrikjazz in der Roten Fabrik die Canaille aufgegriffen. Mit einer großen und erlesenen Zahl von Musikerinnen ist dieses Festival auf LP / Doppel-CD dokumentiert. Canaille machte dann Station in Lyon, Wien, Moers, Amsterdam, in Berlin (Ost) - dank Uschi Brüning - und immer wieder in Frankfurt. Aus der Canaille sind auch kleinere Gruppen hervorgegangen wie unser Trio "Les Diaboliques" (Joëlle Léandre, Maggie Nicols und ich).

Schon wieder erleben wir dich auf der Höhe der Zeit in Interaktion mit den kompetenten Zeitzeuginnen.

Es sind immer Phasen intensiver Arbeit, zunehmend mit jüngeren Kolleginnen und Kollegen, in die die Erfahrungen früherer Projekte einfließen können. Meine Programme mit Co Streiff und Omri Ziegele sind Brücken zwischen gestern und morgen und bekräftigen meine Zufriedenheit.

Als Jazzmusikerin, die ihren Schaffensprozeß im Griff hat, müssen dich die Defizite bei der Veranstaltung und Verbreitung deiner Musik ärgern. Deshalb hast du schon früh die Initiative ergriffen, um in Zürich zusammen mit Remo Rau die Veranstaltungsreihe Modern Jazz Zürich mit nationalen und internationalen MusikerInnen zu starten, später zu den Mitbegründerinnen der Werkstatt für improvisierte Musik (WIM) sowie zu den Initiantinnen der Fabrikjazz-Gruppe, des taktlos-Festivals und des Zürcher Intakt-Labels zu gehören.

Modern Jazz Zürich war ein Vorgänger von Fabrikjazz. Das Programm gestalteten Remo Rau, der Schlagzeuger Alex Bally und ich. Ende der 70er Jahre gab es erstmals Konzerte in der Roten Fabrik. Zunächst Rock-Konzerte z.B. mit Bob Marley. Die Rote Fabrik blieb aber nicht bei der Monokultur, sondern entwickelte sich zum Kulturzentrum. Ab 1983 sorgt die Fabrikjazz-Gruppe mit Patrik Landolt und Fredi Bosshard für die lebendige Gegenwart von Jazz, Improvisation und Electronica. In diesem Kollektiv war ich aktiv bis 1995. Hier wurde erstmals das taktlos-Festival veranstaltet, das zeitgleich in Bern, Basel und Zürich stattfindet. Zum Kulturzentrum Rote Fabrik gehören Fabriktheater, Bildende Kunst, Rockmusik.

Gibst du uns noch einen Überblick über die gegenwärtigen Musikprojekte?

Aus einer langen Entstehungsgeschichte gewachsen sind das Trio "Les Diaboliques" und das Trio mit Makaya Ntshoko und Omri Ziegele, in dem wir die Musik von Dudu Pukwana und Johnny Dyani aufgreifen. Dazu kommen die Duos mit Louis Moholo und Pierre Favre sowie Hamid Drake und Han Bennink. Alle sind herausragende Schlagzeuger, klanglich differenziert wie Pierre, rhythmisch vorantreibend wie Louis, Hamid und Bennink.

Solo spiele ich ein frei improvisiertes Programm mit komponierten Elementen. Erst gegen Ende der 80er Jahre habe ich begonnen, mit schweizer MusikerInnen zu spielen. Das ist dem Einfluß der Jazz Schule zuzuschreiben. Während ich zu meiner Anfangszeit in Zürich keine Szene vorfand, kann ich heute - wie schon erwähnt - mit jüngeren Kolleginnen und Kollegen arbeiten. Es gibt den Kulturauftrag der Stadt Zürich und dort einen Fonds zur Unterstüzung für die Musiker. Und zum Ausland hin die Stiftung pro Helvetia.

In Deutschland verbinden wir das Projekt Jazz gegen Apartheid mit dem abgewandelten Klaus Mann-Thema "Heimkehr oder Exil". Kommt dir das bekannt vor?

Mir ist niemand bekannt, der wegen seiner künstlerischen und politischen Überzeugung die Schweiz verlassen mußte.

Liebe Irène, ich danke dir für dieses Gespräch.

Das Interview führte: Jürgen Leinhos © 2009 LAKS Hessen e.V, www.laks.de