Seit Januar 2019 ist Angela Dorn Hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst, wodurch das Ministerium erstmals in seiner Geschichte unter der Führung von Bündnis 90 / Die Grünen steht. Angela Dorn wurde 2009, damals als jüngste Abgeordnete, in den Landtag gewählt. 2013 war sie Spitzenkandidatin ihrer Partei bei der Landtagswahl, die - zum damaligen Zeitpunkt sehr überraschend - eine schwarzgrüne Regierung nach sich zog, die auch nach den Landtagswahlen 2018 weiter regieren kann. Nach ihrem Psychologiestudium an der Philipps-Universität Marburg arbeitete sie als Psychologin an der Klinik für Forensische Psychiatrie in Haina. Sie ist verheiratet und Mutter von drei Kindern.
Anm. d. R.: Dieses Interview wurde im Februar 2020 vor der Corona-Krise geführt.
Frau Ministerin Dorn, welche kulturelle Veranstaltung haben Sie zuletzt besucht bzw. welches kulturelle Angebot genutzt?
Privat war ich zuletzt auf einem Konzert von Scott Bradlee’s Postmodern Jukebox in der Frankfurter Batschkapp.
Was war Ihr erster bzw. prägendster Zugang zu Kunst und Kultur?
Den allerersten Zugang zu benennen ist schwer, aber ich erinnere mich an ein bewegendes Erlebnis: Es war eine Ballettaufführung, die ich als 16-Jährige besucht habe. Ich weiß weder, was getanzt wurde noch von wem; es war etwas Modernes und für mich der erste Zauber, den ich mit Kunst erlebt habe. Es ging um einen wahrhaften Aufbruch, das blieb emotional haften. Ich saß ohne sonderliche Erwartungen da, bis ich zum Ende gar nicht mehr wusste, was ich mit meinen starken Gefühlen machen sollte, die Tanz und Musik in mir auslösten. Ich traute mich kaum noch zu atmen, war völlig in den Bann gezogen und konnte vor Faszination noch nicht einmal applaudieren, ich fühlte mich jenseits dieser Welt. In Erinnerung bleibt mir auch eine „Salome“-Aufführung in Wiesbaden: Die moderne Inszenierung übersetzte sehr gelungen das, was früher als provokativ galt, in die heutige Zeit. Sie konfrontierte mich mit der Tatsache, dass viele schlimme Dinge in der Welt geschehen, die wir einfach hinnehmen – das menschenunwürdige Gefangenenlager Guantanamo kam damals als Beispiel. Das schuf bei mir eine Beklommenheit, machte mich persönlich betroffen.
Nach einem Jahr im Amt: Wie nehmen Sie die hessische Kunst- und Kulturlandschaft wahr?
Als einzigartig, faszinierend und vor allem sehr vielfältig. Die Bandbreite der hessischen Kulturlandschaft reicht von zahlreichen modernen und historischen Baudenkmälern – zum Beispiel Museen, Schlössern und Gärten – über renommierte Staatstheater und kommunale Theater bis hin zu einer lebendigen Musikszene. Außerdem haben wir ein hochwertiges Literatur- und Verlagswesen, eine innovative Filmszene und unser „Gedächtnis“ des Landes Hessen, das Archivwesen. Sehr beeindruckt bin ich auch von unseren soziokulturellen Einrichtungen: Hier finden Menschen jeden Alters oder biographischen Hintergrunds Zugang zu Kunst und Kultur, können sich kreativ entfalten und ihr Lebensumfeld mitgestalten. All das wäre nicht möglich ohne die vielen, vielen Kulturschaffenden und Kulturbegeisterten, die sich- oft auch ehrenamtlich - für unsere Kultur engagieren.
Kommen wir auf die Landeskulturpolitik zu sprechen. Bitte vervollständigen Sie den Satzanfang "Kulturpolitik muss..."…
…sich den Bedürfnissen der Menschen annehmen, offen sein und den Mut haben, neues auszuprobieren. Das heißt nicht, dass Bewährtes sich immer ändern muss, das Traditionelles veraltet ist oder Innovation immer den Vorrang hat. Aber es sollte immer die Möglichkeit geben, neue Wege zu gehen. Die Kulturpolitik steht vor der Herausforderung, sich einer großen und abwechslungsreichen Bandbreite kultureller Ideen, Angeboten und Konzepten zu stellen und all dies möglichst passgenau zu unterstützen. So vielfältig, individuell und abwechslungsreich die Ideen sind, die in der kulturellen – und gerade auch der soziokulturellen Szene – entstehen, so groß muss die Bereitschaft sein, sich damit zu befassen.
Parallel zur Landtagswahl 2018 wurden in einem demokratiepolitisch spannenden Prozess 15 Verfassungsänderungen zur Abstimmung gestellt. Seitdem ist auch in Hessen Kultur Staatsziel. Welche ideellen oder konkreten Auswirkungen sind damit verbunden?
Der Kultur - und vor allem auch den Kulturschaffenden – wurde damit eine besondere Wertschätzung entgegengebracht und viel für ein größeres Selbstbewusstsein der Szene erreicht. Kultur ist schwerer greifbar als andere Themen, lässt sich nicht in Maßeinheiten bewerten: Wie viele Menschen müssen eine Aufführung oder eine Ausstellung besuchen oder wie viele Kinder müssen an einem Projekt teilnehmen, damit es „erfolgreich“ war? Daher ist es oft die Kultur, die eine geringere Wertschätzung erfährt und die auch in der Wahrnehmung und in der Konkurrenz mit anderen Themen oftmals hintenansteht. Das haben wir mit der Aufnahme in die Verfassung geändert.
Unsere Gesellschaft befindet sich in tiefgreifenden Transformationsprozessen mit vielen Brüchen und Umbrüchen. Welche Rolle/n können Kunst und Kultur angesichts dieser gesellschaftspolitischen Herausforderungen einnehmen?
Kultur schafft Verbindungen. Menschen, die vielleicht auf anderen Ebenen, sei es beruflich oder aufgrund ihrer Herkunft, nicht viel gemeinsam haben, können zusammenrücken, wenn sie feststellen, dass sie sich in ihren kulturellen Interessen nahe sind. Gerade auch in der kulturellen Projektarbeit wird viel über Kommunikation erreicht, es werden andere Formen der Kommunikation erprobt, Menschen lernen ein anderes Miteinander kennen. Kultur schafft auch Verständnis und Toleranz. Man lernt, Erfahrungen und Eindrücke erst einmal auf sich wirken zu lassen, zu reflektieren, zu hinterfragen und nicht vorschnell zu urteilen. Kunst und Kultur halten Gesellschaft und Politik den kritischen Spiegel vor, sie werfen uns mit Denkanstößen aus eingefahrenen Bahnen und eröffnen Perspektiven. Das sind alles Dinge, die in der heutigen Zeit und für unsere Demokratie unerlässlich sind – gerade angesichts erstarkender rechter Kräfte.
In 2018 hat das Land Hessen erstmals den „Kulturatlas Hessen“ veröffentlicht, der die Förderungen des Landes hinsichtlich Kunst und Kultur darstellt. Gewisse Disparitäten in der Kulturförderung sind, sowohl in der teils massiv unterschiedlichen Dimensionierung von Fördersummen als auch in der Art der Fördermodalitäten, unübersehbar. Wo sehen Sie die kulturpolitischen Herausforderungen für die kommenden Jahre? Welche sind Ihre kulturpolitischen Schwerpunkte? Was haben Sie bereits auf den Weg gebracht?
Kunst und Kultur haben eine zentrale Rolle für unsere Demokratie. Wir müssen sie hegen und pflegen, ihnen Freiheit und Verlässlichkeit geben und soziale Öffnung und Durchlässigkeit ermöglichen, damit möglichst viele Menschen daran teilhaben können – denn nur dann sind sie zukunftsfähig. Für die Jahre 2020 bis 2023 stehen für den Haushalt Kunst und Kultur gegenüber der bisherigen Mittelfristigen Finanzplanung insgesamt 43 Millionen Euro mehr zur Verfügung, das sind jährlich rund zehn Millionen Euro. Wir wollen das zusätzliche Geld vor allem für Projekte nutzen, die dazu beitragen, dass alle Menschen gleichermaßen an Kunst und Kultur teilhaben können, unabhängig von sozialem Hintergrund, Bildung der Eltern oder geographischer Herkunft – hierfür spielt die Soziokultur eine tragende Rolle. Wir wollen den ländlichen Raum stärken, und wir wollen die Situation von Künstlerinnen und Künstlern verbessern.
So bieten soziokulturelle Zentren überall in Hessen, gerade auch im ländlichen Raum, ein Kulturprogramm über alle Genres hinweg, ermöglichen vielen Menschen die Teilhabe am kulturellen Leben, leisten Bildungsarbeit und fördern den Nachwuchs. Sie wollen wir weiter stärken. Auch die Kulturelle Bildung und Vermittlung in Museen, Schlössern und Gärten und im Denkmalschutz steht im Fokus. Zum Beispiel legen wir einen Innovationsfonds auf, mit dem neuartige Ideen kommunaler und privater Museen gefördert werden sollen; zum Beispiel für den inklusiven Museumsbesuch oder andere Konzepte, die der Öffnung und Teilhabe dienen. Zur kulturellen Teilhabe gehört auch die Stärkung des ländlichen Raums: Nicht nur Menschen in den Ballungsräumen sollen Zugang zu Kunst und Kultur haben.
An Musikschulen entwickeln vor allem Kinder und Jugendliche neben musikalischen und kulturellen auch soziale Kompetenzen. Diese Arbeit wollen wir deutlich stärker als bisher unterstützen. Weil es oft an Räumen für Künstlerinnen und Künstler fehlt, werden wir zusätzlich zum bestehenden Kulturellen Raumprogramm mit einem Atelierprogramm Freiräume schaffen, in denen Künstlerinnen und Künstler aller Sparten ihrer Kunst nachgehen können, und Initiativen bei der Anmietung geeigneter Räumlichkeiten unterstützen. Wir wollen auch Projekte fördern, die die Situation von Künstlerinnen im Kunst- und Kulturbetrieb insgesamt verbessern. Auch konnten wir bereits eine überarbeitete Richtlinie für die Filmförderung vorstellen, die weniger bürokratische Verfahren bedeutet, moderne Formen der Filmkunst besser fördert und einen Fokus auf Nachwuchsförderung sowie soziale und ökologische Nachhaltigkeit legt. Die anderen Förderrichtlinien im Kulturbereich wollen wir ebenso vereinfachen, um es den Antragstellerinnen und Antragstellern leichter zu machen.
Das umfangreichste Projekt wird die Kulturbauoffensive HERKULES. Wir wollen in den kommenden zehn Jahren mit 150 Millionen Euro die Museumslandschaft Hessen Kassel, die Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten, das Landesamt für Denkmalpflege und die Landesmuseen bei den großen anstehenden Bauunterhaltungsmaßnahmen zum Erhalt des kulturellen Erbes unterstützen.
Sie sehen, all unsere Schwerpunkte aufzuzählen, sprengt beinahe den Rahmen – und das war nur ein kurzer Abriss.
In Kürze startet ihr Ministerium einen „Masterplan Kultur“-Prozess für Hessen. Was verbirgt sich dahinter und was sind Ziele und Anliegen?
Der „Masterplan Kultur Hessen“ soll die Rahmenbedingungen der hessischen Kulturpolitik festlegen. Dazu gehören sowohl ein kulturpolitisches Leitbild als auch konkrete Handlungsempfehlungen für eine maßgeschneiderte und nachhaltige kulturpolitische Entwicklung des Landes. Er soll einerseits eine professionelle und möglichst umfassende Analyse der Kultur in Hessen und andererseits eine strategische Ausrichtung der Kulturpolitik erreichen. Wichtig ist dabei die Zusammenarbeit mit den Kulturschaffenden: Gemeinsam wollen wir die zentralen Handlungsfelder der kommenden Jahre weiter ausarbeiten und konkretisieren. Wir wollen zuhören und in den einzelnen Handlungsfeldern gemeinsam konkrete, umsetzbare Zielvorstellungen entwickeln.
Wir haben uns für die inhaltliche Gliederung des Masterplanprozesses am Kulturatlas orientiert. Dieser hat ja in der vergangenen Legislaturperiode die wichtigsten Themen und Baustellen in der hessischen Kulturpolitik gesammelt. Zu diesen Themen – zum Beispiel Digitalisierung, Förderstrukturen oder wirtschaftliche Situation von Künstlerinnen und Künstlern – werden wir in einem breit angelegten Prozess mit Kulturschaffenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und Verbänden bis zum Sommer intensiv diskutieren. Anschließend können alle Interessierten die Ergebnisse online kommentieren und eigene Ideen einbringen. Alles gemeinsam wird dann hier im Haus zum Masterplan Kultur verarbeitet, der im Jahr 2021 dann auch vom Kabinett als Leitlinie für die hessische Kulturpolitik verabschiedet werden soll.
Kommen wir auf die Soziokultur zu sprechen. Als Marburgerin kennen Sie eine der Hochburgen der hessischen Soziokultur. Wie bewerten Sie die soziokulturelle Szene in Hessen?
Die soziokulturelle Szene in Hessen ist so bunt und vielseitig wie das Land und seine Menschen. Es stimmt, die soziokulturelle Szene in Marburg ist etwas Besonderes. Dies liegt vor allem auch an der Geschichte der Universitätsstadt und den verschiedenen Einflüssen, die die Uni und die Studierenden mit sich bringen. Aber Soziokultur gibt es überall, in den Städten wie im ländlichen Raum, von Kassel bis in den Odenwald. Sie wird geprägt von den Menschen, die sie leben, und die sich meist ehrenamtlich dafür engagieren. Ich denke, dass die Soziokultur eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe hat, weil sie viele unterschiedliche Menschen - unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Alter, ihrem Beruf- erreicht. Dieser Verantwortung gerecht zu werden, ist eine große Aufgabe. Hier ist es mit dem Modellprojekt Soziokultur gelungen, neben der Wertschätzung, die den Akteuren damit entgegengebracht wird, auch die Rahmenbedingungen für die kulturelle Arbeit zu verbessern. Nach der Verdoppelung der Landesmittel in der vergangenen Wahlperiode wollen wir den Bereich weiter stärken: Der Haushaltsentwurf sieht vor, die Förderung dieser Arbeit über die Landesarbeitsgemeinschaft der Kulturinitiativen und soziokulturellen Zentren um 500.000 Euro zu erhöhen. Perspektivisch ist unser Ziel, erneut eine Verdopplung zu erreichen. Wir setzen damit das 2016 gestartete „Modellprojekt Soziokultur“ fort.
Frau Ministerin Dorn, wir danken für das Gespräch.
Foto: ©kunst.hessen.de