65 Jahre Soziokultur

Parallelinterview mit Christine Knüppel, Jürgen Klähn und Simon Goss (Foto)

Soziokultur lebt. Als "Prinzip Soziokultur" ebenso wie als Verortung in soziokulturellen Zentren. In dem nachfolgenden Interview kommen Vertreterinnen und Vertreter von drei soziokulturellen Zentren zu Wort, deren Einrichtungen im Jahr 2008 Jubiläum feiern:

  • Christine Knüppel, Kulturzentrum Schlachthof, Kassel, 30 Jahre

  • Jürgen Klähn, Kulturscheune Lange Wiese, Haunetal-Wehrda, 25 Jahre

  • Simon Goss, Kulturhalle Schanz, Mühlheim am Main, 10 Jahre

In einem Parallelinterview äußern sie sich zu Entstehung, Entwicklung und Perspektiven ihrer Einrichtungen.

Wie ist das damals entstanden? Und welche Ziele hattet ihr?

Simon Goss: Fünf begeisterte Musicaldarsteller suchten 1998 einen Ort, um eine eigene Bühne aufzubauen, um sich selbst und anderen Künstlern eine Auftrittsmöglichkeit zu bieten. Das Kulturzentrum sollte finanziell autark sein. Deshalb wurde noch eine Kneipe installiert, die zur Kostendeckung beiträgt und das gastronomische Angebot in der Umgebung verbessert.

Jürgen Klähn: Entstanden ist der Verein Kulturscheune Lange Wiese aus dem Zusammenschluss von an Kunst und Kultur interessierten Haunetaler Bürgern und unserem Kontakt zum soziokulturellen Zentrum Pumpwerk in Wilhelmshaven. Unser Ziel war und ist unser Motto: Kultur in der Provinz muss nicht provinziell sein.

Christine Knüppel: Das Kulturzentrum Schlachthof, das älteste soziokulturelle Zentrum Kassels, ist 1978 entstanden im Zusammenhang mit den Neuen Sozialen Bewegungen, als sich bundesweit selbstverwaltete Kommunikationszentren und Kulturläden mit dem Ziel der Demokratisierung von Kultur in leerstehenden historischen Gebäuden gründeten. In Kassel forderten wir - eine Gruppe von Jugendlichen, MigrantInnen, StudentInnen, HochschullehrerInnen und KünstlerInnen - mit kreativen Theaterstücken und provokanten Straßenaktionen unüberhörbar und beharrlich ein Kultur- und Stadtteilzentrum. Zentrale Idee war, einen erweiterten ganzheitlichen Begriff von Kultur umzusetzen, eine Kultur des Mitmachens und der Partizipation zu schaffen, (Frei-)Räume für Selbstinitiative und Selbstbestimmung zu ermöglichen und kulturelle Vielfalt zu fördern.

Welche Ziele davon habt ihr erreicht, welche nicht?

Simon Goss: Die gestellten Ziele wurden erreicht bis auf eines: die finanzielle Unabhängigkeit. Auch Soziokultur trägt sich nicht komplett selbst und muss wie die kulturellen Leuchttürme in den Großstädten von der Allgemeinheit mitgetragen werden.

Jürgen Klähn: Das breite soziokulturelle Angebot, von Kindertheater über Ausstellungen, Mitmachaktionen, Nachwuchsförderung im Musikbereich, Kreativ-und Beratungsangeboten bis hin zu Erwachsenentheater haben unsere ehrenamtliche Arbeit geprägt. Das Ziel, den ländlichen Raum kulturell attraktiv zu gestalten, haben wir erreicht. Eine institutionelle Förderung durch die Gemeinde und den Landkreis ist uns bis heute versagt geblieben, trotz unserer bundesweit und nicht zuletezt durch den Kulturpreis der Kulturpolitischen Gesellschaft anerkannten Kulturarbeit für den ländlichen Raum.

Christine Knüppel: Das breite Spektrum unserer heutigen Arbeit macht deutlich, dass wir unsere Ziele in vielfältiger Weise erreicht haben. Nach 30 Jahren präsentiert sich ein lebendiges (Stadtteil-)Zentrum mit einem attraktiven Veranstaltungsprogramm, differenzierten Bildungs- und Beratungsangeboten sowie einer innovativen Jugendkulturarbeit. Oder anders gesagt, ein Ort gelebter Demokratie und des interkulturellen Dialogs, des Mitmachens und Mitgestaltens, den bis zu 300 Menschen täglich aus mehr als 20 verschiedenen Nationen - Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen - besuchen und nutzen.

Wie war die Entwicklung? Welche Meilensteine gab es? Welche Entwicklung hat euch am meisten überrascht?

Simon Goss: Am meisten überrascht hat uns die Kontinuität auf der Macher-Ebene. Das Ursprungsteam arbeitet bis auf eine Ausnahme immer noch zusammen. Ein Meilenstein war die Eigenproduktion des Musicals "König Henningers Zeitreisen" in 2002, die Ausweitung des gastronomischen Angebots sowie der enorme Erfahrungszuwachs im Laufe der Jahre. Insgesamt sprechen wir hier aber eher von kleinen organisatorischen und inhaltlichen Meilensteinchen, die die Entwicklung im Gesamtbild am meisten beeinflusst haben.

Jürgen Klähn: Die Entwicklung der Kulturscheune war über die Jahre eine Entwicklung der kleinen Schritte. Finanzielle Gradwanderungen waren Alltag, und nur durch Bürgerschaftliches Engagement haben wir die 25 Jahre durch gehalten. Meilensteine waren das Modellprojekt Arche Noah, die Johann Heinrich Wilhelm Tischbein Ausstellung, Goethe als Theaterdirektor und in jüngster Zeit die "Talk Opas" Norbert Blüm und Peter Sodann. Wichtiger waren aber die vielen hundert kleinen Veranstaltungen. Überrascht hat uns die die Langlebigkeit von Soziokultur, also das Bedürfnis, das eigene Lebensumfeld mit zu gestalten.

Christine Knüppel: Natürlich hat sich die Entwicklung des Schlachthofs von einer Initiative zu einem Betrieb mit im Kern etwa 20 hauptamtlichen Mitarbeitern, bis heute in ganz unterschiedlichen Phasen vollzogen. Im Rückblick eine Entwicklung mit Höhen und Tiefen, mit Brüchen und Krisen, mit Selbstzweifeln und vielen Selbstverständnisdiskussionen, Erfolgen und Enttäuschungen, Organisationsveränderungen und Professionalisierungsschüben. Aber bei allen Veränderungen ist es manchmal erstaunlich, dass wir immer noch antreten für die gleichen soziokulturellen Ziele wie zu Beginn. In der reichen Chronologie von Ereignissen ist sicherlich als wichtiger Meilenstein zu nennen, dass wir den Abriss der beiden Verwaltungsgebäude des ehemaligen Schlachthofes verhindern konnten und nach Jahren fäkaliengeschwängerter Abwässer im Keller, einer defekten Elektrik, die nicht nur bei jedem Frühlingsfest zusammenbrach, abblätternden Putzes, je einer Kloschüssel für Männer und Frauen im ganzen Haus die Sanierung und den Umbau der städtischen Gebäude aus Städtebauförderprogrammen erwirken konnten. Meilensteine für die finanzielle Sicherung und strukturelle Entwicklung waren 1981 die erste städtische Förderung, 1990 die erste Bewilligung eines EU-Projektes mit dreijähriger Laufzeit, 1998 die vertragliche Sicherung einer institutionellen Förderung durch die Stadt Kassel, die im Jubiläumsjahr noch einmal nennenswert aufgestockt worden ist, so dass nun eine gute Grundsicherung durch die Kommune gewährleistet ist.

Wofür steht eure Einrichtung aktuell?

Simon Goss: Für kulturell vielfältige Angebote sowie als soziale Begegnungsstätte für Jung & Alt.

Jürgen Klähn: Heute sind wir neben soziokultureller Einrichtung auch Mehrgenerationenhaus, was sich nicht widerspricht, sondern Ausdruck und Fortführung unserer soziokulturellen Arbeit ist.

Christine Knüppel: Für kulturelle Vielfalt, interkulturelle Kompetenz, neue Wege in der Bildungsarbeit, modellhafte Kulturprojekte, für Professionalität und Netzwerkarbeit und natürlich für kreatives gesellschaftliches Gestalten und Fördern und Einbinden von bürgerschaftlichem Engagement.

An welches Erlebnis denkt ihr am liebsten zurück? An welches weniger?

Simon Goss: Negativ war der Großbrand im Nachbargebäude am Eröffnungstag, sehr traurig der Tod eines Teammitglieds. Eine harte Nummer war die Klage eines Künstlers, nachdem wir ihn wegen fehlender Eignung zum Schutz der Kinder wieder ausladen mussten. Legendär war die Veranstaltung im Schanz zur Sonnenfinsternis, die es immerhin in den SPIEGEL schaffte.

Jürgen Klähn: Daran, dass sich die Teilnehmer des Arche Noah Projekts von 1986 zum Jubiläum nunmehr als junge Eltern mit ihren Kindern in der Scheune getroffen haben. Das hat etwas mit Nachhaltigkeit zu tun, was man von den politischen Entscheidungsträgern nicht erlebt.

Christine Knüppel: An den Elefant in unserem kleinen Saal - als Ergebnis einer Wette mit Zirkusleuten, die im Winter 1979 in den noch nicht abgerissenen Schlachtehallen ihr Quartier bezogen hatten. Und an die sehr großzügige Spende einer Privatperson kurz vor Weihnachten 2003, so dass verhindert werden konnte, dass durch die Kürzung der Hessischen Landesregierung im Rahmen der "Operation düstere Zukunft" fast alle Mitarbeiter arbeitslos wurden.

Was waren in der Vergangenheit, was sind aktuell oder perspektivisch eure größten Probleme?

Simon Goss: Das größte Problem ist die fehlende wirtschaftliche Planungssicherheit. Oftmals gleicht das Wirtschaften in einem Kulturbetrieb dem Ritt auf der Rasierklinge, gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Preisentwicklungen. Schwer ist auch, Personal mit hohem Identifikationsgrad zu bekommen und zu halten sowie die eigenen zeitlichen Ressourcen zielgerichtet einzusetzen. Nervenaufreibend ist insbesondere der hohe Grad an Bürokratisierung in unserem Land, was die Veranstaltungsdurchführung und generell das Führen eines Kleinbetriebs betrifft. Ein weiteres großes Problem ist mittlerweile auch die mangelnde Bereitschaft und der Wagemut der Besucher, sich auf eher unbekannte Künstler einzulassen.

Jürgen Klähn: Unsichere Perspektiven der ständigen Projektbezogenen Finanzierung, ständige Arbeitsüberlastung der Ehrenamtlichen.

Christine Knüppel: Das größte Problem war die strukturelle Unterfinanzierung, die immer wieder zu existenziellen Krisen geführt hat, viel Energie und Kreativität absorbiert und gebunden hat. Die daraus folgende Planungsunsicherheit hat den MitarbeiterInnen eine hohe Frustrationstoleranz und Engagement abverlangt. Aktuell stellt die Zunahme an verwaltungsmäßigen Anforderungen und Auflagen bei der Beantragung und dem Nachweis von Fördermitteln eine ernorme Belastung dar, denn in der Regel können die personellen Ressourcen nicht in dem erforderlichen Maße eingerechnet werden.

Wo seht ihr die Perspektive/n eurer Einrichtung für die Zukunft?

Simon Goss: Wir wollen verstärkt mehr Gewicht auf Eigenproduktionen legen. Im September startet der neue Teil des Comedy-Musicals "König Henninger". Ansonsten folgen wir der Idee der kleinen Schritte und versuchen so, Stück für Stück unser Angebot qualitativ zu verbessern und auszubauen.

Jürgen Klähn: Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels, besonders in unserer Region Hersfeld-Rotenburg, ist es eine Herausforderung, die Qualitäten einer soziokulturellen Einrichtung immer wieder im Bewusstsein der Politik zu verankern. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Christine Knüppel: Perspektivisch wird das Kulturzentrum Schlachthof seine Kompetenzen und Erfahrungen in vielen Bereichen bei der Bewältigung der Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels einbringen. Schon heute sind wir gefragt, werden wir beteiligt oder beauftragt an bzw. mit der Bearbeitung von zentralen gesellschaftlichen Fragen. Im Mittelpunkt steht dabei eine sozialräumliche Perspektive und Ausrichtung, bei der es um Integration nicht nur von zugewanderten Menschen, um das Schaffen von Zugängen und um das Gewährleisten von Teilhabe geht.

Ihr habt drei Wünsche frei. Welche sind das?

Simon Goss: 1.) Eigene Ölquelle 2.) Aufstieg des OFC in die Bundesliga 3.) Mehr Platz und mehr Besucher

Jürgen Klähn: Silvester nicht arbeiten zu müssen, nette Künstler und eine andere Regierung!

Christine Knüppel: Ein Anbau an unseren oft viel zu kleinen Saal, eine Überdachung unseres Innenhofes und einmal n u r Gast auf dem Frühlingsfest zu sein zu dürfen!

Gibt es sonst noch was, was ihr an dieser Stelle loswerden wollt?

Simon Goss: Unverständlich sind Verhältnismäßigkeiten in den politischen Entscheidungen, wie zum Beispiel der Bau eines Fahradweges zwischen den Ortsteilen Mühlheim und Lämmerspiel, der aus Landesmitteln finanziert wurde. Dessen Kosten entsprechen in etwa dem des Jahresetats der hessischen Soziokultur. Schade nur, dass dieser Fahradweg nie benutzt wird, weil er parallel zu einem Waldweg angelegt wurde. Hier wird knappes Steuergeld vernichtet, während auf anderer Seite Jahr für Jahr gekürzt wird. Wir wünschen uns für die Zukunft, dass sowohl kommunal als auch landesweit Soziokultur, wie auch immer ausgerichtet, die Lobby erhält, die sie verdient und den politischen Entscheidungsträgern die große Bedeutung der Arbeit in den Zentren und deren positive Effekte auf die Gesellschaft bewusst werden.

Kurzangaben Biographie

Simon Goss, 38 Jahre, Dipl.-Betriebswirt, ist Gründungsmitglied der Kulturhalle Schanz. Im Hauptberuf ist er bei einem Finanzdienstleistungsinstitut in Frankfurt angestellt und engagiert sich im Schanz in den Bereichen Verwaltung und Booking.

Jürgen Klähn, Vorstand eines dörflichen soziokulturellen Zentrums, Gründungsmitglied der LAKS Hessen und Thüringen.

Christine Knüppel, Geschäftsführerin des Kulturzentrums Schlachthof, Vorstandsmitglied der LAKS Hessen e.V.

Das Interview führte: Bernd Hesse © 2008 LAKS Hessen e.V, www.laks.de