Freie, lustvoll emanzipierte Musik aus Frankfurt

Seit mittlerweile 30 Jahren engagieren sich die Akteure mit dem bewusst provokativen Namen "Kultur im Ghetto" - gemeint ist die Bankenstadt Frankfurt / Main - mit einem durchaus speziellen künstlerischen Profil. Die Initiative sucht dabei bewusst verschiedene Orte und Partner für ihre verschiedenen "freien, lustvoll emanzipierten" Aktivitäten. Im Interview mit der LAKS äußert sich Jürgen Leinhos zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Jürgen, wann seid ihr gestartet und wie kam es zu eurer Initiative?

In den Jahren 1983 und 1984 hatten wir - der Südstern, das GallusTheater und die Arena - genug davon, dass überall nur miserabelste Musik gespielt wird. Wir wollten uns auch nicht vorstellen, dass eine andere, bessere Gesellschaft mit trivialer POPmusik herstellbar sei: Die Basis des aufgeklärten Menschen kann nicht aus seiner ästhetischen und intellektuellen Unterforderung bestehen. So entstand unsere Gruppe als Arbeitsgemeinschaft dieser drei freien Zentren in Frankfurt am Main. Seither sieht die Projektgruppe ihre Arbeit darin, gesellschaftlich relevante Themen aufzugreifen und mit kompetenten Musikern in Musik umzusetzen. Dabei beflügelt die Metropole Frankfurt die Phantasie. Konzentration von Kapital, Macht und Unvermögen, Krieg im Frieden, Flüchtlingselend, entfremdete Arbeit und kulturelle Vielfalt sind auslösende Themen für Konzerte, Workshops, Musik-Gespräche, Vorträge und Ausstellungen.

Wie ging es weiter?

Seitdem sind mehr als 250 Konzerte, Workshops, Musik-Gespräche, Vorträge und Ausstellungen entstanden: Wir haben für jedes Thema gleichrangig die ästhetische und die gesellschaftliche Antwort finden können und dafür die kompetentesten und besten lebenden Künstler in diese Arbeit eingebunden. Das hat uns davor bewahrt, Klamauk, mit politischen Statements dekoriert, als Kultur zu verhökern. Die Kompositionen "La Bourse", "Echo Nomia 4.4 - Mahnmal für eine gerechte Wirtschaftsordnung", die Zyklen "Jazzmusiker im III. Reich" und "Jazz gegen Apartheid" sind einige Meilensteine unserer künstlerischen Arbeit, die wir nach 30 Jahren Projektgruppe Kultur im Ghetto in einer Werkschau für 2014 und 2015 herausstellen.

Wo steht ihr jetzt? Was sind eure Aktivitäten? Wer ist aktiv?

Wir arbeiten weiterhin in einem aufgeklärten und kritisch engagierten Umfeld. Das Projekt ist frei und ohne Obdach, mit vielen Spielorten in den Stadtteilen, Kontakten zu Initiativen, Kulturzentren und Kirchengemeinden. Zudem haben wir seit 16 Jahren mit dem Jugend-Musik-Ensemble einige sehr schöne Aufführungen erarbeitet. Jedoch: gemessen an der Statistik der Laks Hessen stellt die Neue Musik 0,018 und der Jazz 0,041 der Veranstaltungen. Da muss die Laks einmal prüfen, in welcher Gegenwart (oder Vergangenheit) sie sich gemütlich eingerichtet hat. Unser Weltbild und unser Kulturbegriff ist geprägt von der Entwicklungsarbeit mit Ernst Ludwig Petrowsky und Peter Giger. Neville Alexander, der Erfinder der Pädagogik der Befreiung, hat uns lange Jahre begleitet. Und als Kulturzentrum ist die naTo in Leipzig unser Vorbild. Wären Hegel & Kant nicht unsere besten Verbündeten, wäre es in dieser kläglichen Gegenwart kaum auszuhalten.

An welche Veranstaltung oder welches besondere Ereignis erinnert ihr euch am liebsten?

Wenn schon Ausnahmen, dann gehören dazu ergreifende Konzerte mit Moholo-Petrowsky-Wauer am Kirchentag gegen Apartheid; dazu die Arbeit mit Erwin Stache, als wir im Projekt "Zahlen! Spiele?" einen Bogen über 450 Jahre vom Silberberg in Potosi nach Frankfurt spannten und dabei noch mit dem Thema Inklusion spielten.

Wie werdet ihr das Jubiläum begehen?

Wir eröffnen am 9. September im GallusTheater eine Ausstellung mit Fotografien von Barbara Aumüller, Wilfried Heckmann und Gustav Eckart: drei Fotografen, die uns bei Konzerten und wegweisenden Workshops beobachtet haben. Am 16. und 17. September folgen 2 Konzerte "La Bourse" im GallusTheater - Anlass ist 20 Jahre Kompositionsauftrag für Michael Sell und seine genialischen Adaption von G. Ph. Telemanns "La Bourse". Und vom 24. - 29. November folgt die Musik Johnny Dyanis in 6 Konzerten der Reihe "Jazz gegen Apartheit - zwischen Heimkehr und Exil".

Wie bewertet ihr eure bisherige Entwicklung? Seid ihr zufrieden mit dem Erreichten? Wo nicht?

Unser Konzept ist aufgegangen und von den Künstlern wie vom Publikum und den Mitveranstaltern in Stadtteilen und Partnerstädten voll verstanden worden. Wir konnten für jedes Thema ästhetische und gesellschaftliche Lösungen finden und dafür die kompetentesten und besten lebenden Künstler einbinden. Dennoch können wir niemals zufrieden sein. Denn gleichzeitig ist - weltweit und in Hessen - die Ideologie der Trivialisierung zur Norm geworden, das urteilsfähige Individuum in den einst klassischen Kulturländern ist ausgegrenzt. Vor der Frage "Flüchten oder Standhalten" gestellt, hat sich die Soziokultur der alten Bundesländer dem vorauseilenden Gehorsam unterworfen.

Wo seht ihr euch in 5 Jahren?

Die Jugendlichen, die sich heute (2014) noch von Trivialmusik terrorisieren lassen, erwachen und distanzieren sich von den digitalen Medien. Sie suchen ihre eigenen ästhetischen Erfahrungen und finden sie in der aufgeklärten Musik der Gegenwart. Die soziokulturellen Zentren sehen sich in der Folge mit einem zunehmend vergreisenden Publikum konfrontiert. Die Projektgruppe Kultur im Ghetto delegiert ihre Arbeit an eine Gruppe neugieriger und urteilsfähiger Teenies.

Wo in 20 Jahren?

Die emanzipierte Musik ist zum geistigen Besitzstand von jungen aufgeklärten Bildungsbürgern geworden. Als Opfer der Trivialisierung wird die Generation des kulturellen POPulismus zunehmend zur nicht integrierbaren Randgruppe. Soziokulturelle Zentren organisieren Sensibilisierungsprogramme für ihr vergreistes Publikum. POP-Musik ist nur noch in Anstalten wie Landsberg im Programm: als strafverschärfende Folter (Obama: "We tortured some folks"). Die unesco distanziert sich und verurteilt Folter mit POP-Musik als übermäßig brutal. Nachdem auch die Schule ihren kulturellen Bildungsauftrag angenommen hat, denkt die Projektgruppe - erstmals nach 50 Jahren - über ihre Auflösung nach.

Jürgen, vielen Dank und alles Gute!

Das Interview führte: Bernd Hesse © 2014 LAKS Hessen e.V, www.laks.de