Jugendliche sind die Seismographen der Gesellschaft

Im Interview: Klaus Farin

Klaus Farin, Jahrgang 1958, lebt und arbeitet als Autor und freier Journalist in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Medien, Literatur und jugendlichen (Sub-)Kulturen. Zudem ist er Initator und Leiter des Archivs der Jugendkulturen, das in Berlin seinen Sitz hat. Am 07. November 2002 sorgte Klaus Farin als Impulsreferent für die thematische Einleitung beim 2. Kulturpolitischen Diskurs der LAKS Hessen, der den Titel "Wir machen doch nur Spaß - Jugendliche zwischen Vereinnahmung und Lebensgefühl" stand.

Klaus, du bist vielbeschäftigter Autor, Referent und Archivleiter in Sachen Jugend und Jugendkulturen. Wie lebt es sich als Berufsjugendlicher?

Oh, mit jedem Jahr besser. Meine midlife crisis hatte ich schon mit Mitte Dreißig, als die ersten Punks plötzlich anfingen, einen zu siezen. Wenn man das überlebt und begreift, dass man beim besten Willen kein Jugendlicher mehr ist, lebt man gleich viel relaxter.

Du bist Initiator und Leiter des Archivs der Jugendkulturen, das seinen Sitz in Berlin hat. Was tut ihr dort? Und wie war die Entstehungsgeschichte?

Zunächst betreiben wir eine derzeit rund 200 m2 umfassende Bibliothek, in der jeder, der sich für Jugendkulturen interessiert, zum Beispiel, weil er oder sie gerade eine Diplomarbeit schreibt oder ein Theaterstück oder einen "Tatort" dreht usw., alles findet, was das Herz begehrt: Einige tausend Bücher, Zeitschriften, Studien, Diplomarbeiten, Presseausschnitte und vor allem authentisches Material: Fanzines, Tonträger, Flyer. Darüber hinaus betreiben wir eben auch eigene Forschung und geben eine Buchreihe und mit dem Journal der Jugendkulturen auch eine eigene populärwissenschaftlich-journalistische Zeitschrift heraus. Und gegründet haben wir unseren Verein schlicht deshalb, weil es so eine Einrichtung, in der sich jedermann/frau öffentlich, unzensiert und kostenlos über Jugendkulturen informieren kann, heute in Europa auch nirgendwo sonst gibt.

Wer interessiert sich für bzw. wer nutzt dieses Angebot?

Die HauptnutzerInnen unserer Bibliothek sind in der Tat StudentInnen und WissenschaftlerInnen, aber auch SchülerInnen und Szene-Angehörige sowie Praktiker aus der Jugend- und Kulturarbeit. Bei unseren Büchern wissen wir, dass etwa 30 - 40 Prozent der Auflagen von Szene-Angehörigen gekauft werden, und zwar durchaus auch gemischt: Punks kaufen Bücher über Skinheads, Metaller kaufen Bücher über die Gothics etc...

Als Jugendforscher legst du Wert darauf, dass der Forschende seine eigenen Hintergründe und Interessen offen legt. Was sind deine Beweggründe, dich derart intensiv mit dem Bereich "Jugend" zu beschäftigen?

Eigentlich bin ich ganz pragmatisch da hineingeraten: Ich hab' mit 16 oder 17 angefangen, journalistisch zu arbeiten, und da interessiert man sich nun einmal für Jugendkulturen. Vielleicht steige ich ja bald auf das Thema Graue Panther um... Aber davon ab: Weil Jugendliche, die sich erst ihren Platz in der Gesellschaft erkämpfen müssen, sensibler auf Veränderungen reagieren als wir bereits Etablierten, sind sie genaue Seismographen für gesellschaftliche Trends und (Fehl-)Entwicklungen. Wer heute begreift, wie "die Jugend" tickt, weiß, wie morgen unsere Gesellschaft aussehen wird, denn in zwanzig Jahren werden die Jugendlichen von heute hier die Macht haben. Und dann wird nebenbei auch kraftvoll zurückgeschlagen, was heute an Jugendlichen verbrochen wird...

Vielen deiner Forscherkollegen wirfst du eine zu große Distanz und damit Unkenntnis über die Forschungsobjekte vor. Dir selber wird umgekehrt bisweilen vorgehalten, bei deinen Recherchen im rechtsextremen Milieu zu neutral zu sein. Wie siehst du das?

Diese These wird eigentlich nur noch von Leuten vertreten, die nach dem Motto "Schlagt sie, wo ihr sie trefft" leben und großen Wert darauf legen, dass zwischen ihnen, den Guten, und den Bösen, als den Rechten und eigentlich dem ganzen Rest der Welt, eine unüberwindbare Mauer steht. Diese Art von Autismus ist natürlich ganz praktisch, ermöglicht sie doch widerspruchsfreie Theorien, funktioniert aber nur, wenn man den Großteil der viel komplexeren Realität ausblendet, zum Beispiel die Tatsache, dass fast jeder Zweite aus der rechten Szene wieder aussteigt, manche sogar ins linke Lager überwechseln. Ich denke, wenn man sich ernsthaft mit Rechtsextremismus, Rassismus und Jugendgewalt beschäftigen will, muss man sich wie bei jedem anderen Thema auch erst einmal sachkundig machen. Und dazu reichen Sekundärquellen wie wissenschaftliche Studien, Medienberichte und auch Antifa-Infos nicht aus, weil die alle nur Teilaspekte behandeln bzw. die Realität bereits verfremden und entsprechend ihrer eigenen Interessen verfälschen. Also lasse ich in meinen Büchern zunächst die Jugendlichen, eben auch die Rechten, ausführlich und unzensiert selbst zu Wort kommen mit dem Ziel, dass sich jeder ein eigenes, möglichst authentisches, realitätsgerechtes Bild machen kann. Und ich glaube, dass die Mehrzahl der Menschen, die zum Beispiel meine Bücher lesen, dazu auch in der Lage sind - und nicht nur einige oberselbsternannte Schlaue, die meinen, darüber entscheiden und zensieren zu dürfen, was die "blöde Masse" lesen und hören darf und was nicht. Abgesehen davon habe ich noch keinen einzigen Rechten getroffen, der nach der Lektüre meiner Bücher oder nach einem Vortrag oder persönlichen Gespräch glaubte, ich selbst vertrete eine rechte Meinung.

Klaus, wir danken für das Gespräch.

Das Interview führte: Bernd Hesse © 2002 LAKS Hessen e.V, www.laks.de