„Ich fühle mich in Deutschland freier als in Japan"

Takemitsu Morikawa im Interview

Dr. rer.pol. Takemitsu Morikawa, geb. 1969, schrieb eine Doktorarbeit im Fachbereich Soziologie an der Universität Kassel, Promotionsthema: Die Wissenschaftstheorie, Erkenntniskritik und Methodologie der Kulturwissenschaften bei Max Weber und Friedrich Gottl. Von 1997-2001 Stipendiat des DAAD in Kassel. Derzeit Forschungsstipendium der "Japan Society for the Promotion of Science" (Japanische Gesellschaft für die Förderung der Wissenschaften) für theoretische Reflexion der Religions- und Kultursoziologie. Kam über Deutschkurse des Goetheinstituts Tokio nach Deutschland. Im Ausland gibt es Stereotype für andere Länder, und danach sind die Deutschen rationale Denker und fleißige Arbeiter. Aber dieses Deutschlandbild hat ihn nicht angezogen. Vielmehr, dass in Japan die Vorstellung herrscht, die Deutschen hätten sich mit der Vergangenheit des 2. Weltkrieges richtig auseinandergesetzt, wohingegen die Japaner dies vernachlässigt hätten. Mittlerweile findet Takemitsu Morikawa diese Vorstellung fraglich, etwa unter dem Gesichtspunkt, wer in Nachkriegsdeutschland trotz Verbindungen zum Nationalsozialismus Politik und politische Karriere gemacht hat. Ebenso halten die Japaner die Demokratie in Deutschland für reifer und für weniger korrupt, wobei er auch hier nach diversen politischen Schwarzgeldäffaren Zweifel anmeldet.

E.: Takemitsu, du hast hier in Deutschland verschiedene Soziokultureinrichtungen kennen gelernt. Was hältst du von solchen Orten?

T.: Ich kenne Soziokultur, eine sogenannte alternative Kultur, sie ist in Japan nicht so stark. In Japan gab es auch in den 60er und 70er Jahren eine Studentenbewegung, aber daraus ist keine starke alternative Kultur entstanden. Die damaligen Studentenführer sind heute ins System eingegliedert, sozusagen in das konservative Milieu. Diese alternative Gegenkultur finde ich sehr spannend - ich meine in Deutschland.

E.: Du hast eben gesagt: "die sogenannte alternative Kultur". Was meinst du damit?

T.: Ich bin sehr vorsichtig damit, etwas unter einen Oberbegriff zu bringen. Dies ist eine Form, etwas zu tun, aber es gibt vielleicht auch eine andere Art von Kultur, die ich noch nicht erfahren habe. Die alternative Kultur ist in einem politischen Zusammenhang entstanden, mit bestimmten politischen Vorstellungen, in Verbindung mit der Suche nach anderen Lebensformen. Der alternativen Kultur ist somit eine Gegenkultur vorausgegangen. Die Alternativen in Deutschland sind schon ziemlich weit gezähmt, so dass man sie in einigen Fällen mit der Jugendkultur gleichsetzen kann.

E.: Was gibt es in Japan für Möglichkeiten für Menschen, die sich kulturell engagieren wollen?

T.: Es gibt in Japan ein größeres Angebot an Wettbewerbs-Ausschreibungen im Bereich Kultur, auch von kleineren Unternehmen, das ist finanziell ganz interessant. In der Zeit der Seifenblasenökonomie wurde Kultur stark unterstützt, dies hat durch die derzeitige Rezession nachgelassen. Meine jüngere Schwester zum Beispiel ist eine arbeitslose Schauspielerin. Es gibt in Japan ziemlich viele kleine Theaterhäuschen oder kleine Theatergruppen, dort kann man gut einen Einstieg in die Karriere machen.

E.: Wie finanziert sich so etwas?

T.: Das weiß ich nicht so genau. Meistens privatwirtschaftlich, und viele Schauspieler machen das ehrenamtlich, also aus dem eigenen Portemonnaie. Die haben dann einen anderen Job zum Leben.

E.: Was machen in Japan junge Leute, wenn sie etwas unternehmen wollen?

T.: Also, zumindest in Tokio gibt es fast alles: Theater, Kino, Museen, Musik und so weiter. Hochkultur und auch Sport.

E.: Gibt es so etwas wie selbstorganisierte Gruppen, die Orte für sich schaffen? Orte, in denen Subkultur geschaffen wird?

T.: Es gibt viele Leute, die eine Band gründen, die sich ein Studio mieten, wo sie spielen können. Oder sie treten auf der Straße auf. Das geht in bestimmten Stadtvierteln. In Tokio ist das so seit 10 oder 15 Jahren. Es gibt auch in Tokio viele Lagerhäuser, die sehr gerne an Jugendliche vermietet werden. Sehr häufig sehe ich auf der Straße oder am Bahnhof Jugendliche, die Musik machen und/oder auch tanzen. Es gab sogar eine öffentliche TV-Sendung, in denen sich Bands von Jugendlichen vorstellen konnten. Das hat dazu beigetragen, dass die Band-Kultur sozial anerkannt wurde.

E.: Gibt es so etwas wie die Kulturfabrik Salzmann in Tokio - also einen Ort mit wahnsinnig viel Platz, wo Menschen etwas machen können? Ich stelle mir vor, dass die Mieten dort unerschwinglich sind.

T.: Das schon, aber man kann in Tokio auch viel besser verdienen als hier. Ich weiß aber nicht, ob es so etwas gibt. Ein Konzert, das Jugendliche für sich selbst organisieren, ist meistens sehr billig, dasselbe gilt für Theaterstücke, die in kleinen Theatern gespielt werden. Ebenso gibt es Foto- und Kunstausstellungen, die ehrenamtlich organisiert werden. In großen Theatern gibt es Konzerte von bekannten Musikern, die sind aber sehr teuer. Ich habe den Eindruck, dass Jugendliche in Japan, speziell in Tokio, ziemlich reich sind, was natürlich davon abhängig ist, wieviel die Eltern verdienen, aber viele Jugendliche arbeiten in einem oder mehreren Teilzeitjobs. Ich sehe zum Beispiel in Europa jugendliche Reisende aus Japan. In der Studienzeit haben viele Teilzeitjobs und sparen. Mindestens die Hälfte von ihnen wohnen bei den Eltern, dadurch können sie Miete sparen.

E.: Was fällt dir, sozusagen mit dem Blick des Zwischen-Den-Kulturen-Reisenden an Unterschieden oder Gemeinsamkeiten auf?

T.: Ich finde interessant, dass sich manche Sachen in Deutschland jetzt verbreiten, die es in Japan schon seit ein paar Jahren gibt. Wie zum Beispiel Handys oder Computerspiele. Oder ich war auf einer Karaoke-Party, Karaoke kommt auch aus Japan. Auch japanische Mangas sind sehr in Mode. Oder Pokemons und Tamagotchi. Ich frage mich, ob solche Sachen eine allgemeine Gültigkeit oder eine allgemeine Anziehung haben. Ich habe auf der Documenta gesehen, dass man ein Video-Spiel eingesetzt hat. Das stellt ja auch einen bestimmten Aspekt des modernen Lebens dar. Ich denke, dass diese Einflüsse in einem bestimmten Sinne die Kulturszene in Europa verändert haben. In Japan werden moderne Technologien schneller angenommen als in Europa. Die Japaner haben offenbar weniger psychologische Barrieren, wenn es darum geht, moderne Technik zu benutzen. Es ist allerdings nicht fair, wenn man Tokio mit Kassel vergleicht. In Tokio ist das Leben ganz schnell und ganz flüchtig, man muss alles ganz schnell entscheiden und ganz schnell etwas machen, ganz schnell leben, vielleicht kann man das so sagen.

E.: Siehst du bei dieser Schnelllebigkeit einen Konflikt mit den Traditionen, oder ist das eher ein reibungsloser Umbruch?

T.: Reibungslos ist es nicht, aber in vieler Hinsicht verändert sich das gesellschaftliche Leben in Tokio in einem viel höheren Tempo als das, was ich hier in Kassel gesehen habe. Wenn man es etwas ruhiger haben möchte, muss man sich auf dem Land umsehen. In Kassel kann man gut in seinem eigenen Tempo leben.

Das Interview führte: Eva Flach © 2003 LAKS Hessen e.V, www.laks.de